Institut Kunst / Bachelor
Sebnem Seckin
Erlernte Unzugänglichkeit
Für viele monotheistische Gläubige, wie zum Beispiel im Islam, ist Beten die Verbindung zur ultimativen, moralischen Instanz und eine Praxis, die Ehrfurcht und bedingungslose Liebe hervorruft. Aus neurologischer Sicht betrachtet hat das Gehirn kein spezielles System für die Kommunikation mit abstrakten und unsichtbaren Autoritäten. So sind während des Betens kaum Hirnareale angeregt, die normalerweise für abstraktes Denken und Logik zuständig sind. Das deutet darauf hin, dass Gläubige Gott als konkrete Person verarbeiten. Zumindest im Hinblick auf die Hirnfunktionen ist Beten durchaus vergleichbar mit irdischen sozialen Interaktionen. Erwiesenermassen interessiert sich das Gehirn nicht zwingend für den Inhalt einer bestimmten Handlung. Durch praktizierte Routine entsteht nach Minimum 21 Tagen ein neues Neuron – das Wiederholte gewinnt tatsächlich an Existenz, potentiell jedwede Handlung wird dadurch zur Gewohnheit. So etabliert sich Beten als Ritual zu einer Gewohnheit, wird zum Automatismus (zu einer gelebten Gewohnheit), die vom Organismus nicht mehr hinterfragt wird.
In meiner künstlerischen Arbeit habe ich mich mit folgenden Fragen beschäftigt:
Was deute ich selbst für wahr und welche Bedeutung bildet dabei meine Religion, der Islam? Entsteht eine Wahrheit rein durch Wiederholungen, obwohl sie der Vernunft nicht zugänglich ist?
In welchem Verhältnis stehen Religion und Vernunft zu einander?
Mit meiner Arbeit möchte ich einen Raum schaffen, der durch mehrere Dimensionen zum In-sich-kehren einlädt. Gleichzeitig soll eine Hinterfragung ermöglicht werden, ab wann das Praktizieren ritueller Zuwendungen ausser Kontrolle geraten kann oder wie etwa ein Zustand der Ekstase durch gegenstandslose Substanzen überhaupt entsteht. Die Arbeit ist ein diskreter Versuch, erlernte Reiz-Reaktionsmuster, die wesentliche Körpervorgänge aus dem Gleichgewicht geraten lassen, zu analysieren.
Das Objekt im Raums steht – ausgehend von der cartesianischen Glaubenstheorie – für die drei Substanzen: Gott als die unendliche Substanz, Geist und Materie als die endlichen Substanzen. Dieses philosophische Konzept wird auf ein gebogenes Dreieck übertragen, das an den Mihrâb, die islamische Gebetsnische erinnert. Der Mihrâb in Moscheen wird als «Kampfplatz» gedeutet, an dem der Mensch gegen die eigenen Triebe und seine Unzulänglichkeiten ringt. Das wiederholte Hören der Gebetshymne lenkt vom visuell Begreifbaren ab. Die unverständliche, sich wiederholende Tonspur und das blaue Licht sollen den Körper aus seinem «sicheren» Zustand lösen und in einen Trancezustand versetzen. Das Diskolicht, welches einerseits an die westliche Unterhaltungswelt erinnert, repräsentiert andererseits auf der islamischen Ebene das Meditieren des Derwischs durch permanentes Drehen.